Gi

Aus Budopedia
Version vom 7. September 2014, 23:44 Uhr von Werner Lind (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Wechseln zu: Navigation, Suche


2. Gi (waza) – die Technik

Gi (auch waza) bedeutet „Technik“, „Fähigkeit“, „Kunstgriff“. In den Kampfkünsten steht der Begriff für die Übung der körperlichen Technik und bildet damit eines der drei Grundelemente in jeder Übung des dō. Waza bedeutet aber nicht nur Technik, sondern kann sich unter der Anleitung eines sensei in die Interpretationen der jutsu (technische Kunst) erweitern, ein Konzept, das das menschliche Wirken in allen lebenswichtigen Situationen meint. Gi ist wie der nahezu bedeutungsgleiche altgriechische Begriff téchnê, von dem sich unser Wort „Technik“ ableitet, in seinem Charakter ambivalent. Ohne das kontrollierende Element des verantwortungsbewussten menschlichen Geistes (shin) birgt das Streben nach technischer Perfektion ein latentes Gefahrenpotential. Welche Techniken soll der Mensch entwickeln: die zu einem bedingungslosen technischen Fortschritt oder die zur Erhaltung seiner Art? Ist er in seinem Ego zentriert, und sucht aufgrund seiner unüberwundenen Tiefen wie Goethes Faust nur nach Befriedigung seines Erkenntnistriebes? Oder ist er durch eine kulturelle Übung zu Erkenntnis und Selbsterkenntnis fähig und versteht wie Lessings „Nathan der Weise“ übergeordnete Zusammenhänge, die menschliches Überleben ermöglichen? Habgier, Selbstsucht und Geltungsbedürfnis sind in allen Kulturen die Auslöser für menschliche Tragödien, die Gründe für alle Kriege und für das Scheitern jeder bisher existierenden Gesellschaftsordnung. Dieses unüberwundene Versagen des Menschen gegenüber dem Leben manifestiert sich seit Jahrtausenden im egoistischen Missbrauch der jeweils zur Verfügung stehenden Technik seitens der gesellschaftlichen Eliten zur Erhaltung der Macht. Technik ohne geistige Vervollkommnung ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in der Evolution, gleich wie hoch die Technik entwickelt sein mag. Sie kann nur dann ein Fortschritt sein, wenn die Menschen bereit sind, ihre Wirkung zu verantworten, nicht aber, wenn Technik als Monopol zum Gewinn von Macht und Reichtum verwendet wird. Wo dies geschieht, gibt es einen erheblichen Mangel an Selbsterkenntnis, Bildung und Kultur. Um sich in besagter Weise geistig zu vervollkommnen, muss der karateka nach einer gewissen Zeit des Übens die Stufe des elementaren Techniksystems (shu) überschreiten, denn das ausschließliche Befassen mit der Formenvielfalt hält ihn ewig gefangen im System. Die heutzutage häufig anzutreffende Vorstellung, dass die Jagd nach beständig neuen Formen Fortschritt gewährt, ist falsch. Die früheren Meister beschränkten sich auf wenige Formen und gingen in die Tiefe. Die Idee der Erweiterung der Formenvielfalt mit dem Ziel, die Qualität der Übung zu steigern, ist vergleichbar mit der Vorstellung, dass das Werk eines Dichters zwangsläufig besser wird, wenn er mehrere Sprachen lernt. Der Meister ist nicht im Technik-System verhaftet – er hat es transzendiert – selbst wenn er es aufs Genaueste beachtet. Der Schüler jedoch muss das System lernen, weil ihm jede darüber hinausgehende Möglichkeit zum Fortschritt noch fehlt. Der Meister des Weges übt die Technik als Mittel zur Sinnfindung, der Schüler auf dem Weg übt die Technik um ihrer selbst willen. Darin besteht der Unterschied zwischen der „vollendeten Technik“ und der bloßen technischen Fertigkeit. Die vollendete Technik des karate dō muss nicht schneller, höher, stärker, besser usw. als eine andere sein, sondern sie muss richtig sein. Die Voraussetzung dafür ist die Korrelation von shin, gi und tai. Deshalb ist gi im karate dō nicht dasselbe wie Technik im Sport. In den Kampfkünsten ist gi ein Mittel, im Sport ist sie ein Ziel. Der Unterschied liegt nicht in der Form selbst, sondern im Sinn, den der Mensch ihr verleiht. vervollkommnen. Meister eines Weges ist jener, der mit seinem Herzgeist (shin) das Wesen der Dinge (yūgen) unter ihrer Oberfläche erkennt.